Morgen ist auch noch ein Tag
[05-2016 / German / 445 words]
Vorsichtig schaue ich mich um und trete in den Sesselkreis. Ich blicke in ernste, aber freundliche Gesichter. Nervös knete ich meine Hände, bis ich den Anfang mache:
„Ich heiße F. und ich bin ein Prokrastinateur.“
Mitfühlend antwortet die Gruppe: „Hallo F. Schön, dass du hier bist.“
„Äh… ja.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Unschlüssig blicke ich die Leute um mich herum an.
„Nur Mut“, sagt eine. „Es ist keine Schande, krank zu sein. Es ist eine Schande, nichts dagegen zu tun.“
Ich vergesse meine Angst und es bricht aus mir heraus: „Ich… ich kann nicht mehr! Immer nur verschieben und vertagen. Ich möchte einfach nur, dass es aufhört!“
Die Runde murmelt zustimmend. Einer fragt: „Teilst du deine Geschichte mit uns?“
„Hmm, könnte ich vielleicht später? … ach verdammt – ja, ok!“
Umständlich räuspernd beginne ich: „Also, da gibt es diese Seminararbeit… und dieses Ding liegt jetzt schon seit Ewigkeiten unerledigt herum. Ich müsste nur noch zwei Absätze schreiben, und ich könnte sie abgeben. Fix und fertig!“
„Ja, gut so“, ruft einer dazwischen. „Gib uns deinen Schmerz!“
„Egal, wie motiviert ich bin – ich schaffe es nicht, weiterzumachen. Stattdessen gehe ich einkaufen, wasche Wäsche, schreibe Mails… heute habe ich sogar Fenster geputzt. Zum ersten Mal in meinem Leben!“
[…]
„Ich habe alles gemacht, außer diese Seminararbeit zu schreiben. Ich habe Zeitung gelesen und meinen Schreibtisch aufgeräumt. Ich habe mein Mülltrennsystem verfeinert und Staub von den Sesselleisten gewischt. Alles – nur nicht diese verdammte Seminararbeit!“
Eine Frau in weißer Robe steht auf und sieht mir fest in die Augen: „Du allein schaffst es, aber du schaffst es nicht allein.“
„Aber… ich verstehe nicht“, stammle ich.
„Eile mit Weile. Dir fehlt weniger, als du denkst. Was du tun musst, ist den Schleier zu lüften.“
„Schleier lüften? Ich?“
„Sieh doch – in deinem Prokrastinieren liegt große Kraft. Du würdest alles tun, um nicht diese Seminararbeit schreiben zu müssen. Und das musst du ausnutzen. Diese Seminararbeit ist ein austauschbares Medium – in Wirklichkeit geht es gar nicht um sie. Es geht um deine Einstellung.“
„Ja aber … ich schaffe es nicht. So sehr ich es auch probiere. Ich … [schluchz] … ich bin zu schwach.“
Voller Wärme entgegnet mir die Frau: „Na na … du bist nicht schwach. Du musst nur lernen, deine Fähigkeiten zu kontrollieren. Bändige den Geist der Prokrastination und du kannst ihn in beliebige Dinge hineinzwängen. Du wirst sehen, das geht.“
„Und was hilft mir das?“, frage ich nach. „Bedeutet das nicht, dass ich diese Dinge dann nicht machen möchte?“
„Genau – auf gar keinen Fall. Um nichts in der Welt. … Aber dafür ist dann alles andere ganz einfach.“
„D… danke.“
[…]
„Ich heiße F. und ich bin ein Pro-Prokrastinateur.“